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Bayern 2 „Nachtmix“ Schwerpunkt „Michael Fiedler“
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Stuttgarter Musiker Michael Fiedler: Internationaler Soundprophet aus dem Kessel

Stuttgarter Zeitung 24.08.22, Jan Georg Plavec

Michael Fiedler ist Jah Schulz und Tokyo Tower, Annagemina, Roboter Blanco sowie Knipsen, und jetzt ist er tatsächlich auch Michael Fiedler. Der 43-Jährige hat eine beeindruckende Sammlung musikalischer Identitäten und Pseudonyme angehäuft. Jetzt ist er bereit, Musik unter seinem Klarnamen zu veröffentlichen. Das Album „One_Ten“ ist am vergangenen Montag erschienen, digital und auf Vinyl. Es ist das bisher eindringlichste Album des elektromusikalischen Tausendsassa. Michael Fiedler ist einer der umtriebigsten Stuttgarter Popmusiker, und doch in Japan und Mexiko berühmter als hier. Bislang war er musikalisch unter zahlreichen Pseudonymen unterwegs. Das ändert sich jetzt.

Obwohl Fiedler tagein, tagaus Musik macht und dafür auch durchaus die Werbetrommel rührt, ist es selbst für Stuttgarter ein Leichtes, ihm bislang nicht begegnet zu sein. Das hat unter anderem damit zu tun, dass der Musiker sich im heimischen Studio in Kornwestheim am wohlsten fühlt. Am zweitliebsten ist er da, wo Subkultur ist – auf gelegentlichen Dubparties, exzentrischen Jamsessions im Kunstumfeld, im Kulturkiosk am Züblin-Parkhaus, bei experimentellen Theaterproduktionen oder den ausgefalleneren Abenden im Jazzclub Kiste.

Stets findet man ihn hinter einem Berg aus Kabeln und Gerätschaften, denen der Musiker tiefe Bässe ebenso entlockt wie vertrackte Beats oder durch Effektkaskaden geschleifte Stimmen nicht mehr erkennbarer Herkunft.

Frankreich, Mexiko, Japan – dort kennt man ihn Der zweite Grund, warum man Michael Fiedler in seiner Wahlheimat nicht so viel wahrnimmt, wie es eigentlich nötig wäre: anderswo schätzt man die Art Musik, die er macht, deutlich mehr. Als Jah Schulz hat Fiedler sich mittlerweile weltweit einen Namen in der Dubszene gemacht. Deutsche sind in der Welt elektronisch-experimenteller Offbeatmusik eher Exoten. In Frankreich feiern bei entsprechenden Festivals trotzdem (oder gerade deswegen) Tausende Jah Schulz, seine Platten verkauft Michael Fiedler bis nach Japan und im Oktober geht er auf Mexiko-Tournee.

Nur Stuttgart stellt ihn (oder auch diese Art Musik) nicht auf die große Bühne. Sven Väth spielte im Juni am Schlossplatz Techno. „Warum baut da nicht mal jemand ein riesiges Soundsystem auf und lässt Dub laufen?“, fragt Fiedler.

Er wache mit Musik im Kopf auf und gehe mit neuen Ideen ins Bett. „Drumcomputer, Synthesizer und Effekte – das ist voll mein Ding“, sagt Fiedler. Er steht für die düstere, schwere Art von Musik, die sich mit solchen Instrumenten erzeugen lässt. Sein selbstbetiteltes neues Album ist das Ergebnis der bleiernen Coronazeit, der Trennung von seiner Frau und der Trauer um seinen verstorbenen Mitmusiker Günter Rolle, mit der das Duo Les Six bildete – ein weiterer Baustein in Fiedlers für Außenstehende kaum zu überblickenden musikalischer Identität.

Der Musiker empfiehlt, seine neue Platte daheim auf dem Sofa zu hören. Das wird dann allerdings keine Party, sondern ein ziemlich intensives Erlebnis. Töne, Lärm, Beats und Stimmen schichten sich dutzendfach übereinander zu einer Klangcollage, die man auch als hörbares Bild in ein Museum hängen könnte. Ganz klar: diese Kunst wurde aus Leid geboren. In depressiven Momenten habe er sich zumindest ins nächste Zimmer schleppen können, also sein Studio, erzählt er. Und so übersetzt sich auf „One_Ten“ Emotion unmittelbar in Maschinenmusik.

Das Album fügt dem ohnehin schon extrem vielfältigen Schaffen Fiedlers ein neues, vielleicht zentrales Mosaik hinzu.

Geboren wurde er 1978 im sächsischen Löbau. Dort gab es nicht viel, was das Leben eines elektronischen Musikers prägen könnte. Doch der Mitschnitt eines Konzerts von Jean-Michel Jarre im DDR-Fernsehen faszinierte den Jungen. „Den Rest habe ich mir in meiner Fantasie zurechtgebastelt“, erzählt er. Oder im Plattenladen, wo er sich zwar nur selten etwas kau!e, aber die Texte auf den Plattenhüllen lesen konnte.

Als er 1994 auf Wunsch der Eltern eine Ausbildung am Bau machte, wählte er zufällig Stuttgart als neue Heimat. Mit dem zusammengesparten Geld kaufe er sich ein Keyboard und einen Drumcomputer, das wurde damals alles gerade bezahlbar. Sein erster Aufritt fand im längst geschlossenen Le Fonque am Wilhelmsplatz statt. Seither kamen unzählige Liveaufritte und mehr als 50 Veröffentlichungen zusammen, von denen nicht einmal Michael Fiedler selbst eine vollständige Liste besitzt. Dafür taucht eine Dub-Version für ein Remixalbum der 2Raumwohnung-Platte „36 Grad“ zwischen Werken von Paul van Dyk und Westbam auf. „Das war mein einziger Kontakt mit dem großen Popbusiness“, erzählt Michael Fiedler grinsend.

Sein Tätigkeitsfeld sieht er seit jeher anderswo. Mit Annagemina, seinem bekanntesten Projekt, spielte er schon manch wildes Konzert. Elektronische Soundteppiche rollte er unter anderem in diversen Galerien, vor dem Stadtpalais oder inmitten der Wagenhallen-Baustelle aus. Bei einer Dub-Party im Mos Eisley war der Bass so laut aufgedreht, dass der Fusel aus den Schränken fiel. Beim Kulturfestival „Funkeln inklusive“ setzte er im Mai in der ifa-Galerie noch eins drauf und machte Musik für Gehörlose – also vor allem tiefe Töne, die in die Glieder fahren.

Eigentlich macht Fiedler also Kunst, vielleicht Neue Musik. Er lebt davon, finanziell wie auch emotional. Und doch sind ihm als Autodidakt Teile des akademisierten Kunstbetriebs verschlossen. Daran leidet er nur ein bisschen – ebenso wie an dem Umstand, dass seine Musik (oder jedenfalls ein Teil davon) auch in seiner Heimatstadt Stuttgart durchaus mal auf der großen Bühne stattfinden dürfte.

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